Andrea König ist Soziologin, Business Mental Coach, New Workfluencer und…
Willkommen in der Welt der unsichtbaren Held:innen: der pflegenden Angehörigen. Wenn wir über Care Arbeit sprechen, neigen viele dazu, ein bestimmtes Bild vor Augen zu haben: Eltern, die sich um ihre Kinder kümmern. Doch das ist nur ein Teil der Geschichte. In diesem Blogbeitrag möchte ich eine Zielgruppe vor den Vorhang holen, die künftig einen nicht unbeträchtlichen Einfluss auf den wirtschaftlichen Erfolg eines Unternehmens haben kann: Die pflegenden Angehörigen. Eine Gruppe, die oft übersehen wird (wahrscheinlich weil sie überwiegend weiblich ist), aber eine immense Bedeutung für unsere Gesellschaft und Arbeitswelt hat…
Pflegende Angehörige: die unsichtbare Zielgruppe
„Vereinbarkeit hat nicht nur mit Kindern zu tun“ – Ich traue mich zu sagen, dass die meisten Menschen beim Begriff „Care Arbeit“ zuerst an die Eltern-Kind-Beziehung denken. Jedoch umfasst dieser Begriff mehr als nur Kindererziehung. Care Arbeit bezieht sich vor allem auch auf die Pflege naher Angehöriger. Dieser Aspekt wird im öffentlichen Diskurs meist völlig außer Acht gelassen. Die aktuellen Debatten rund um das Thema Pflege zielen meist auf den eklatanten Fachkräftemangel im Pflegebereich ab. Doch wie sieht es mit jenen Menschen aus, die ihre Angehörigen zu Hause, quasi „nebenbei“ pflegen? Wer sind diese Menschen? Welche Bedürfnisse haben sie? Und warum bekommen sie keine Aufmerksamkeit im aktuellen gesellschaftlichen Diskurs?
Dabei sind sie neben anderen marginalisierten Gruppen eine wichtige Zielgruppe für Unternehmen im Kontext der demographischen Entwicklung und dem daraus resultierenden Fach- und Arbeitskräftemangel. Der Arbeitsmarkt hat sich rein von der Zahlen- und Datenlage her, bereits in einen Arbeitnehmenden-Markt entwickelt. Doch das Mindset der Unternehmen ist oft noch das alte geblieben. Daraus ergeben sich dann Aussagen und Argumentationen, die bspw. eine Reduktion der Normalarbeitszeit bei vollem Lohnausgleich (kurz: „die 4-Tage-Woche„), wohlstandsgefährdend abtun oder die eine wirtschaftliche Schieflage bzw. den Konkurs von Unternehmen auf die „faulen Arbeitslosen“ schieben.
Umso wichtiger ist es jene Menschen (und damit potentielle Zielgruppen) vor den gesellschaftlichen Vorhang zu holen, die bisher unsichtbar geblieben sind – deren Bedürfnisse nicht bekannt sind – die aber künftig das Zünglein an der berühmten Waage sein könnten.
Pflegende Angehörige: Zahlen, Daten, Fakten
Doch wer sind nun „pflegende Angehörige“ und warum könnte diese bisher nicht viel beachtete Zielgruppe zum Gamechanger schlechthin werden. Beginnen wir mit der aktuellen Datenlage: In Österreich wird der Großteil der hilfs- und pflegebedürftigen Menschen zuhause gepflegt und betreut. Dies entspricht oft dem Wunsch der pflegebedürftigen Person und wird von den Angehörigen ganz selbstverständlich erfüllt. Laut der Studie „Angehörigenpflege in Österreich“ aus dem Jahr 2018 sind es 947.000 Personen, die auf irgendeine Art und Weise in die Pflege und Betreuung einer/eines Angehörigen involviert sind. 801.000 pflegende Angehörige betreuen ein Familienmitglied zu Hause und 146.000 Menschen kümmern sich um eine/einen Angehörigen in einer stationären Langzeitpflegeeinrichtung.
Der weitaus überwiegende Anteil an Hilfs-, Betreuungs- und Pflegeleistungen wird von Familienangehörigen erbracht. Davon werden 68% von Frauen übernommen, wobei der Altersschwerpunkt zwischen 51 bis 65 Jahren liegt. Care Arbeit ist also vor allem weiblich, wie man auch hier im Kontext der Pflege erkennen kann. Sowohl die Gruppe der pflegebedürftigen Menschen als auch die der pflegenden Angehörigen umfasst ganz verschiedene Menschen, nämlich zusammengefasst 3 Zielgruppen:
Personen, die (weitaus) über 50 Jahre alt sind, die ihre Eltern und/oder Lebensgefährt:innen betreuen
Eltern (jung bzw. nicht mehr allzu jung), oft auch Alleinerziehende, die sich bereits um ihre Eltern bzw. um ihre Kinder mit Beeinträchtigungen kümmern
Kinder und Jugendliche, die sich bereits in ganz jungen Jahren um ihre kranke Mutter und/oder kranken Vater kümmern. Dies passiert oft im Verborgenen, ohne dass es das Umfeld mitbekommt.
Das Forschungsinstitut für Altersökonomie der WU Wien hat im Jahr 2019 erhoben, dass mehr als zwei Drittel der Frauen in Wien neben der Tätigkeit als pflegender Angehöriger auch berufstätig sind. Etwa 86,6% der informell pflegenden berufstätigen Personen sind älter als 40 Jahre. Neben der Erwerbstätigkeit widmen sich die Angehörigen 13 Stunden pro Woche der Pflege und Betreuung der hilfsbedürftigen älteren Personen. In 40% der Fälle wird dabei tägliche Betreuungsarbeit geleistet. Wie bereits erwähnt, pflegen nicht nur Erwachsene. Auch Kinder und Jugendliche befinden sich in der Situation einen Elternteil oder einen Bruder/ eine Schwester zu pflegen. Die Zahl der pflegenden Kinder und Jugendlichen im Alter von 5-18 Jahren, beträgt 42.700. Das durchschnittliche Alter der pflegenden Kinder, die zu 70% weiblich sind, beträgt ca. 12,5 Jahre, wie die sozialpolitische Studienreihe im Auftrag des Österreichischen Sozialministeriums aus dem Jahr 2015 zeigt.
Die Pflege als Gamechanger im Employer Branding
Die Datenlage spricht eine deutliche Sprache: Knapp 1 Million Menschen in Österreich pflegen Angehörige zu Hause – viele neben ihrem Job, den sie aufgrund dieser Situation nur in Teilzeit ausüben können. Tendenz stark steigend! Dabei gibt es auch pflegende Angehörige, denen es gar nicht möglich ist zu arbeiten, aufgrund der schwere des Pflegefalls. Diese, aber auch die vorher genannten, sind vor allem armutsgefährdet und/oder von Altersarmut betroffen, da es bis dato immer noch keine fairen und gerechten rechtlichen Rahmenbedingungen für diese Zielgruppe gibt. Pflegende Angehörige sind demnach eine wichtige Zielgruppe für Unternehmen, da es künftig immer mehr Menschen am Talentemarkt geben wird, die Angehörige zu Hause pflegen. Deshalb ist man hier gut beraten, schon jetzt dementsprechende Maßnahmen zu setzen bzw. vor allem auch die Zielgruppe auch im Unternehmenskontext sichtbar zu machen.
Als Arbeitgeber:in steigere ich meine Attraktivität, in dem ich entsprechende Maßnahmen setze, um pflegenden Angehörigen die Vereinbarkeit bzw. ihre Care Arbeit zu erleichtern. Dies können gezielte Kooperationen mit Institutionen sein (wie bspw. die Interessensgemeinschaft pflegender Angehöriger), die sich dem Thema angenommen haben oder auch Helplines, die auf diese Zielgruppe spezialisiert sind. Denn Care Arbeit bzw. die Pflege von Angehörigen ist vor allem eines: physisch und psychisch belastend.
Stimmen aus einer Fokusgruppe
„Das schafft mich emotional. Wenn mir jemand gesagt hätte, dass einem in diesem Zusammenhang das Herz bricht, dann bin ich gerade dort.“
(Pflegender Ehemann, Fokusgruppe)
„Es war damals einfach eben so, dass das zeitgleich mit meiner beruflichen Karriere (…) zusammengefallen ist und das war sehr schwierig für mich, da dann Fuß
zu fassen im Beruf. Ich habe es da nicht geschafft und seitdem sehe ich mich als
pflegende Angehörige.“ (Pflegende Mutter, Fokusgruppe)
„Ich bin Akademikerin, ich habe zwei Titel und ich konnte auch lange Jahre nicht
arbeiten gehen und das ist für mich auch wichtig. Ich wollte unbedingt in meinen
Beruf zurück, habe sogar meine Promotion abgeschlossen, aber es ging nie.“
(Pflegende Mutter, Fokusgruppe)
„Wenn man nicht auf sich schaut und den Zeitpunkt findet, wo es zu viel ist, dann
ist es vorüber. Diesen Zeitpunkt hätte ich fast übersehen.“
(Pflegender Ehemann, Fokusgruppe)
Dies sind Stimmen aus der qualitativen Studie „Pflegende Angehörige“ aus dem Jahr 2021 im Auftrag des Fonds Soziales Wien. Sie geben ein gutes Stimmungsbild, wie sich pflegende Angehörige fühlen bzw. mit welchen Belastungen sie zu kämpfen haben. Im Sinne der Fürsorgepflicht, aber auch der Intention die Bindung von Mitarbeitenden an das Unternehmen zu erhöhen, ist es unumgänglich das Thema „Pflege“ strategisch in das Employer Branding aufzunehmen. Zumal es künftig noch brisanter wird, da ausgebildete Pflegekräfte in Einrichtungen bereits jetzt schwer zu finden / zu halten sind und sich somit mehr in den unbezahlten Teil der Care Arbeit verschieben wird.
Inklusive Arbeitgeber:innen sind im klaren Vorteil
Die Anzahl der eigenen Mitarbeitenden, die wahrscheinlich ihre Wochenstunden kürzen müssen sowie doppelt bzw. mehrfach belastet durch Pflege und/oder Erziehung der Kinder sind, nimmt also in Zukunft zu. Der demographische Wandel befeuert diesen Umstand nur noch mehr. Unternehmen können sich diesem Thema also bereits jetzt annehmen – oder sie werden es künftig müssen. Die typische Arbeitswelt, die wir bis dato kannten, ist eine männlich geprägte – ohne weitere Verpflichtungen, nur Arbeit und Karriere. Als Frau sich darin wiederzufinden, die statistisch gesehen den Großteil der Care Arbeit übernimmt, ist dies ein täglicher Balance-Akt, geprägt durch Mehrfachbelastung und dem Begleiter des schlechten Gewissens.
Dass die Arbeitswelt inklusiver – nämlich offener für die vielen verschiedenen Lebensrealitäten von allen Menschen – wird, ist keine Forderung von anti-kapitalistischen Träumenden. Sie ist ein Muss für jene Menschen, die gesehen und einen gerechten Platz mit fairen Bedingungen möchten. Der Arbeitsmarkt hat sich bereits von einem Arbeitgeber:innen- in einen Arbeitnehmer:innen-Markt gewandelt – rein statistisch gesehen. Jetzt ist es an der Zeit nicht nur Prozesse oder Maßnahmen dahingehend anzupassen, sondern vor allem das Mindset, also die eigene Haltung. Inklusive Unternehmen, die die Bedürfnisse der Mitarbeitenden in den Fokus stellen und mittels individueller Maßnahmen darauf eingehen, sind bereits jetzt am Talentemarkt im klaren Vorteil – vor allem werden sie dies aber in Zukunft sein.
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Andrea König ist Soziologin, Business Mental Coach, New Workfluencer und Gründerin des Blogs „Karrieregeflüster“. New Work sieht sie als Chance, die beste Version von uns selbst zu sein und somit nachhaltig die Arbeitswelt zu verändern.